Folge 2 - Die segensreichen Kaltwasserkuren

Peter Nics 

KALTENLEUTGEBEN VON DAMALS BIS HEUTE

2. Fortsetzung

Die segensreichen Kaltwasserkuren

Die wirtschaftliche Lage ändert sich aber auch deshalb zum Besseren, weil man im Laufe des 19. Jahrhunderts damit beginnt, die vielen und reichen Wasserquellen des Tales medizinisch zu nützen. So wandelt sich Kaltenleutgeben von einem kleinen Kalkbrennerdorf, in dem kaum mehr als 500 Menschen leben, innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem international bekannten Kurort, aber auch zu einer beliebten und insbesondere von Wienern gern aufgesuchten Sommerfrische mit über 2000 Einwohnern. Stilvolle Villen, große Kurhäuser und geschmackvolle Landsitze verdrängen die alten, eher bescheidenen Behau­sungen. Hat man bislang vom Kalkbrennen, Steinbrechen, Holzfällen und etwas Viehzucht gelebt, wird nun der Fremdenverkehr zur Haupterwerbsquelle.
Bereits im Biedermeier (1815 - 1848) kann Kaltenleutgeben mit zwei Badeanstalten aufwarten, die sich die heilende Kraft des Wassers zunutze machen. Die erste errichtet ein gewisser Adolf Weiß dort, wo vormals das Landhaus Jakob Oeckhls, des Erbauers der spätbarocken Pfarrkirche, gestanden hat. Das genaue Entstehungsjahr ist nicht überliefert, es gibt aber ein Tableau, das angeblich aus dem Jahr 1810 stammt, und auf dem drei Ansichten der Badeanstalt wiedergegeben sind sowie eine Kurzbeschreibung dieser Anlage aus dem Jahr 1839: Eben so besitzt Herr Adolf Weiß ein elegantes Landhaus, mitten in Gartenanlagen, das er mit allen Bequemlichkeiten für die Wasserkur versah. Ein geräumiges Bassin mit Springstrahl begrüßt gleich beim Eingang den Wasserfreund; in der Nähe sind 2 Vollbäder mit zu- und abfließendem Wasser neben dem Wohnzimmer, eine zierliche Breterhütte enthält die künstliche Douche und Apparate zum Regenbad (Zeitschrift ,,Adler", 2. Jahrgang, Nr. 139).
Die zweite Badeanstalt gründet der Hesse Johann Emmel (1796 - 1868) im Jahr 1835. Zuvor erwirbt er in Wien das Diplom für Wundarzneikunde und Geburtshilfe (=Praktischer Arzt) und geht anschließend zu Vinzenz Prießnitz nach Gräfenberg in Österreich-Schlesien, um sich an dessen neu entwickelter Naturheilmethode zu orientieren. Über die Emmel'sche Anstalt steht bei ,,Adler“ (Im selben Heft): Ganz nahe ist man da an den Quellen, die ihr Krystallwasser aus einem rothen Marmorfelsen von nur 6 1/2 Grad (= 80 C) unausgesetzt in zwei Vollbäder und zwei Natur-Douchen, letztere von 20 Fuss Fall (= 6,5 m) liefern. Die ganze Anstalt ist mit Obstgärten, Bergwiesen und von den Häusern der Dorfleute zum Theil umgeben.
Johann Emmel rührt bereits kräftig die Werbetrommel und gibt eine Zeitungsannonce auf: Den fünften Jahrgang (= 1840) der Kaltbad-Anstalt zu Kaltenleutgeben bey Wien, eröffnet der Unterzeichnete (=Johann Emmel, Landarzt) mit dem frohen Bewußtseyn, durch sein zweckmäßiges Unternehmen nicht nur so manchen seiner Mitmenschen wohlthätigen Dienst erwiesen, sondern auch der Menschheit überhaupt in augenscheinlicher Darlegung der im Kaltwasser befindlichen herrlichen Kräfte wesentlich genützt zu haben.
Es gibt schon einen regelmäßigen Personenverkehr von Wien nach Kaltenleutgeben: Täglich zweimal fährt vom Spitalsplatz (heute: Lobkowitzplatz) ein Stellwagen ab, und zwar um 6 Uhr früh und um 4 Uhr nachmittags (um 6 Uhr morgens und um 7 Uhr abends geht es von Kalten1eut­geben nach Wien). Zwar gäbe es seit 1839 auch schon die Möglichkeit, die Wien-Gloggnitzer Ei­senbahn zu benützen, aber diese Art zu reisen ist noch gewöhnungsbedürftig.
 
Das Winternitz-Imperium
Der ganz große Aufschwung setzt allerdings erst 1865 ein, als Dr. med. Wilhelm Winternitz (1835 - 1917) aus Böhmen die alte Badeanstalt des Adolf Weiß als Standort für seine Wasserkuranstalt wählt. Nach einem Medizinstudium an der Prager Universität und einigen Jahren ärztlicher Tätigkeit geht auch er nach Gräfenberg, um die Anwendungsmöglichkeiten von kaltem Wasser kennen zu lernen. Allerdings beschreitet er dann eigene Wege, die ihn zum wissenschaftlichen Begründer der Hydrotherapie werden lassen, für die er sogar einen eigenen Lehrstuhl an der medizinischen Fakultät der Wiener Universität erhielt.
Dr. Winternitz wählt ganz bewusst Kaltenleutgeben aus, das ihm wegen der vielen reichen Quellen von hervorragender Wassergüte, der Nähe zur Haupt- und Residenzstadt - nunmehr gut erreichbar mit der Südbahn bis Liesing, dann weiter mit Stellwagen - und nicht zuletzt wegen des bereits vorhandenen Bekanntheitsgrades, sowohl als Kurort als auch als Sommerfrische, besonders geeignet erscheint.
In nur wenigen Jahren macht Dr. Winternitz seine Wasserkuranstalt zu einem renommierten und mustergültigen Institut, das weit über die Grenzen Österreich-Ungarns bekannt ist. Zu seiner Blütezeit im ausgehenden 19. Jahrhundert umfasst das Winternitz-Imperium drei große Kurhäuser (Altes Kurhaus, Morizhof ( Heinrichshof) und an die zwanzig Dependancen und Villen ( wie Hedwig-Heim, Schweizerhaus, Lidiehof, Villa Fanni, Clara-Haus, Soßen-Heil, Mutter-Segen, Thespis-Hütte, Posthof) und ist für gut und gern 300 gleichzeitig kurende Gäste ausgelegt. Alle Ordinationsräume sind mit den neuesten medizinischen, chirurgischen und elektrischen Apparaten - ein eigenes kalorisches Kraftwerk erzeugt den benötigten Strom - ausgestattet. Ein schwedisch-heilgymnastisches Institut ist ebenfalls vorhanden.
Auch für die Zerstreuung der Kurgäste ist bestens vorgesorgt. Ein eigenes Theatergebäude mit einem 250 Personen fassenden Theatersaal und angeschlossener großer Konditorei steht zur Verfügung. Den ganzen Sommer über finden, meist freitags, abwechselnd Schauspiel-, Operetten und Konzertaufführungen statt.
Im geschmackvoll angelegten und sorgfältig gepflegten Kurpark mit seinen Springbrunnen und einem prachtvollen alten Baumbestand spielt während der Saison dreimal täglich die Kurmusik in einem eigenen Musikpavillon. Im Kursalon, der mit Lese-, Spiel- und Billardzimmern ausgestattet ist, liegen alle Wiener Zeitungen und Zeitschriften sowie die interessantesten ausländischen Blätter auf.
1868 wird zur Bequemlichkeit der Kurgäste im Verwaltungsgebäude ein Postamt mit Fahrpost eingerichtet. Die Post geht täglich fünfmal von Kaltenleutgeben ab und wird ebenso oft ausgetragen. 1883 kommen ein Postsparkassendienst und 1888 ein Telegraphen- und Telephondienst dazu. Bereits um 1890 sind die wichtigsten Gebäude mit elektrischem Licht ausgestattet.
Die Geh- und Fahrwege im unmittelbaren Ortsgebiet werden aufgespritzt, um lästige Staubbildung zu vermeiden. Da entsprechende Bewegung in der freien Natur zum Kurprogramm gehört, bat speziell Prof. Winternitz dafür gesorgt, dass die Kurgäste auf seinem weitläufigen Besitztum dazu ausreichend Gelegenheit erhalten. So führt direkt vom Kurpark weg ein Serpentinenpfad den Hang hinauf zu einer schönen, sonnigen Wiese, die nach ihrem Besitzer Doktorwiese genannt wird. Der Pfad hat sich bis heute, wenn auch versteckt erhalten, auf der Wiese steht heute die Siedlung Doktorberg.
Auf der anderen Talseite erreicht man über eine etwa 2,5 km lange und auf 200 Höhenmeter ansteigende Waldstraße die in idyllischer Lage im Schweizerstil erbaute Gaisbergmeierei. Selbst Kaiserin Elisabeth macht dort des Öfteren auf ihren ausgedehnten Spaziergängen Rast und erfreut sich an der herrlichen Fernsicht. Wer sich dagegen eher für Sport begeistert und gern Tennis spielt, der hat die Möglichkeit, dafür den Rasenplatz auf der Eiswiese zu benützen.