Folge 14 - Ein nasskalter Sommer oder Mark Twain in Kaltenleutgeben

 Peter Nics

Kaltenleutgeben von damals bis heute

14. Folge

Ein nasskalter Sommer oder Mark Twain in Kaltenleutgeben
Mark Twain, der literarische Vater von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, hält sich vom Herbst 1897 bis 'zum Frühjahr 1899 mit seiner Familie in Österreich auf, die meiste Zeit davon in Wien. Den Sommer 1898 verbringt der amerikanische Dichter Samuel L. Clemens - so sein bürgerlicher Name - mit seiner Ehefrau Olivia und seinen Töchtern Clara und Jean in Kaltenleutgeben.
Bereits im April wird auf Quartiersuche gegangen: Wir sind gerade dabei, uns ein nettes Haus zu mieten, hübsch möbliert, in einem kleinen Kurort eine Stunde von Wien entfernt­ - ganz von herrlich bewaldeten Hügeln umgeben. Die Familie wird sich am 1. Juni dorthin begeben und, wenn es ihr gefällt, bis Oktober bleiben. Frau Clemens und Jean haben vor Bäder zu nehmen. Vierzehn Tage später berichtet Mark Twain an eine andere Adresse: Wir haben eine möblierte Villa am Ende eines Wasserkurortes gemietet. Frau Clemens und Jean wollen die Kur gebrauchen. Mit dem Zug benötigt man eine halbe bis eine dreiviertel Stunde nach Wien. Die Villa ist sehr hübsch gelegen. Dichter Föhrenwald grenzt unmittelbar an den rückseitigen, Garten, und rundherum befinden sich bewaldete Hügel. Unsere neue Adresse lautet: Kaltenleutgeben bei Wien, Villa Paulhof.
Bei Bezug des Quartiers in der heutigen Karlsgasse 3 gegen Ende Mai dürfte es zu Meinungsverschiedenheiten mit dem Hausherrn gekommen sein. Mark Twain fühlt sich sichtlich übervorteilt, was zu einer amüsanten Tagebucheintragung führt: Es gibt schon reichlich verrückte Bräuche. In allen Ländern. Doch nur der Fremde bemerkt sie, nicht aber der Einheimische, denn dieser ist daran gewöhnt, und sie sind für ihn eine Selbstverständlichkeit. - Nimmt man in Wien eine Wohnung, zahlt man die Miete zweimal jährlich im Voraus. Nimmt man aber auf dem Land ein Landhaus, zahlt man gleich für ein ganzes Jahr - "Das Haus könnte doch in der ersten Nacht abbrennen ", gibt man zu bedenken, "was dann?" - "Nun, ich verfüge noch über andere Häuser, Sie könnten dann eines von diesen haben ", meint der Hausherr. - "Das würde uns sicher nicht zusagen, denn wir haben uns jedes Haus im Ort angesehen, und es gibt kein zweites, das noch in Frage käme". - "Ich würde schon mein Bestes für Sie tun." - "Das Beste wäre aber nicht gut genug." - "Man kann doch nicht mehr als sein Bestes geben." - "Sie würden also keinesfalls daran denken, das Geld zurückzuerstatten?" - "Nein, das ist bei uns nicht üblich." - "Frage: Wenn jemand auf Kur hierher kommt, dann weiß er, dass die Behandlung sechs Wochen dauern und er ständig unter Aufsicht des Arztes stehen wird. Kassiert denn auch der Arzt sein Honorar im Voraus? - "Natürlich nicht." - Warum denn nicht?" - "Hm, es wäre ja möglich, dass der Patient... " - "Sprechen Sie doch weiter: Der Mann könnte in der Zwischenzeit sterben, das wollten Sie doch sagen!" - "Hm, ja." ­"Sehen Sie, genau so gut könnte das Haus niederbrennen!"
Dieser Vorfall hat aber keine nachhaltige Wirkung, und so schreibt der Dichter am 10. Juli in einem Brief: Wir haben uns hier bereits gut eingelebt und eine Köchin engagiert. Ich hoffe, dass wir in diesem Haus fünf bis sechs Monate bleiben können. Jedenfalls dürfte die Kur den Seinen sehr gut bekommen sein, denn seinem alten Bekannten Rogers berichtet er nach Amerika: Dieser Ort ist ein Kaltwasserkurort und hat einen sensationell guten Ruf.
Kommen Sie herüber und bringen Sie Frau Rogers mit! Wagen Sie doch diesen Versuch, Sie können nichts Besseres tun! Es wird Sie für die nächsten zehn Jahre auf Trab bringen!
1898 ist auch das Jahr des 50-jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josefs (übrigens: Das Kaltenleutgebner Rathaus wird aus diesem Anlass errichtet). Unter den zahlreichen Feiern, die es landauf, landab gibt, wird in Wien am Sonntag, dem 26. Juni, ein riesiger Schützenfestzug abgehalten. Mark Twain ist unentschlossen, ob er deshalb nach Wien fahren soll: Ich nahm den Acht-Uhr-Zug nach Wien, um die Parade zu sehen. Dabei kam mir der Zufall zu Hilfe, denn aus Bequemlichkeit war ich schon halb und halb dazu entschlossen nicht zu fahren. So kam ich um fünf Minuten zu spät zum Bahnhof - aber der Zug war noch nicht weg. Da ich auch einige Freunde antraf, entschloss ich mich doch zu fahren. Abends nach Kaltenleutgeben zurückgekehrt, greift er sofort zur Feder und schildert den Festzug, an dem 25.000 Akteure teilgenommen hatten, in den glühendsten Farben.
Kein Glück hat der Dichter mit dem Wetter. Anfang August vermerkt er: Heute ist ein warmer Tag - erst der fünfte in diesem Sommer. Im Haus ist es allerdings kühl... Den ganzen Sommer über bleiben Blattwerk und Gras dicht, grün und frisch, es gibt keine verdorrten und braunen Stellen, auch keine Fliegen, Käfer oder andere Insekten; keine Moskitos und keine Gelsen. Nichts von alledem findet sich im Haus, obwohl der Garten voller Bäume ist und dichtes Buschwerk aufweist - bekanntlich ein guter Platz für diese Art Getier.
An einen Berliner Bekannten, der auf der Durchreise einen Zwischenstopp in Wien einlegt, schreibt Mark Twain Mitte August - und wieder kann er sich einen Seitenhieb auf die Kaltenleutgebner Bahn nicht verkneifen: Wir empfehlen, den ersten Nachmittagszug zu nehmen - er geht vom Südbahnhof so zwischen halb drei und drei; Fahrzeit 50 Minuten. Telegrafieren Sie beim Umsteigen in Liesing, wann genau Ihr Zug abfährt, damit ich Sie vom Bahnhof Kaltenleutgeben abholen kann. Ich habe dann noch genügend Zeit rechtzeitig hinzukommen, denn diese Nebenbahn gehört zu den langsamsten Eisenbahnen der Welt, weil sie ständig nur bergauf fährt. Zusammen machen wir dann einen Waldspaziergang. Anschließend, um 3/4 5, Jause mit der Familie in der Anstalt; hierauf, um 1/2 8, Abendessen in unserem Haus. Dann wird es langsam Zeit für Sie, nach Wien zurückzufahren, denn heraußen gibt es zur Zeit kein freies Bett, in dem jemand, der kein abgebrühter Weltenbummler ist, sich zu schlafen trauen dürfte.
Am 17. September findet das Begräbnis der in Genf ermordeten Kaiserin Elisabeth statt. Mark Twain steht an einem Zimmerfenster des Hotels Kranz gegenüber der Kapuzinerkirche und beobachtet das Geschehen auf dem Neuen Markt. Noch am Abend dieses Tages hält er in Kaltenleutgeben die wichtigsten Details schriftlich fest, um später einen ausführlichen Bericht darüber abzufassen.
Das Wetter bessert sich nicht wesentlich. Ende September lässt sich der Dichter in einem Brief genauer darüber aus: Jetzt wird es bereits ganz schön kalt, doch ein Weilchen möchten wir noch hier bleiben. Wir haben uns sowieso schon daran gewöhnt zu frieren - war es doch den ganzen Sommer über recht kühl. Für mich war es eine fruchtbare Zeit - ich habe eine Fülle an Stoff zu Papier gebracht, wohl in der Hauptsache für posthume Veröffentlichungen. Wie recht doch Mark Twain mit dieser Bemerkung haben sollte: Die meisten seiner in Kaltenleutgeben verfassten Kurzgeschichten und Essays werden erst nach seinem 1910 erfolgten Tod veröffentlicht.
Am 15. Oktober beendet die Familie Clemens ihre Sommerfrische und kehrt nach Wien zurück. Anlässlich der 150. Wiederkehr des Geburtstages dieses großen amerikanischen Dichters wurde 1985 eine Gedenktafel an jenem Haus, in welchem die Familie Clemens den Sommer 1898 verbracht hatte, enthüllt.