Folge 37 - Ein Hesse kommt nach Kaltenleutgeben und gründet hier eine Badeanstalt

 
Peter Nics

Kaltenleutgeben von damals bis heute

37. Folge

Ein Hesse kommt nach Kaltenleutgeben und gründet hier eine Badeanstalt

Kaltenleutgeben hat dießmal den vierten Jahrgang seines Bestandes als Kaltwasser=Anstalt eröffnet. Wer nur immer in dieser reitzenden Umgebung einige Zeit verweilte, und kennt, welch wohlthätigen Einfluß auf Gesundheit und Stimmung die einfache Weise des Landlebens, zumal in Verbindung mit dem kräftigen Gebrauche des frischen Bades und Trunkes äußert, der begreift, wie viele Menschen, die oft Jahre lang ohne Erfolg sich abmühen, hier den Zweck ihrer Genesung schnell und vollkommen erreichen würden.
Der dasige Landarzt, Herr Emel, hat es von seiner Seite an nichts fehlen lassen, diesen Zweck zu befördern. In seinem eigenen Hause wird man von einer lieben, redlichen Familie zur Pflege angenommen, und empfängt eine einfache schmackhafte Kost um den billigsten Preis. Ganz nahe ist man da an den Quellen, die ihr Krystallwasser aus einem rothen Marmorfelsen von nur 61/2 Grad  [=8° C] unausgesetzt in zwei Vollbäder und zwei Natur=Douchen, letztere von 20 Fuß [=6,3m] Fall liefern.
Die ganze Anstalt ist mit Obstgärten, Bergwiesen und von den Häusern der Dorfleute zum Theil umgeben, bietet allenthalben Spaziergänge, ja Ausflüge in die reitzende Nachbarschaft …
Dieses Dorf versammelt besonders an Sonntagen die Städter, welche durch eigene oder Stellwagen dahin gebracht werden; gut angelegte Straßen führen von da nach allen Seiten hin, und selbst der allerhöchste Hof genießt hier zuweilen den Balsam der reinen Luft, welcher über die üppig grünen Bergabhänge dahin weht. Das Klima ist mild. Die Kranken, welche an langwierigen Uebeln leiden, werden von den Stadtärzten dahin geschickt.
(Aus: Der Adler, 1839, 139)
 
1819 ließ sich der junge Hesse Johann Emmel (1796-1868), Sohn eines Strumpfwebers und aus der Nibelungenstadt Alzey bei Mainz stammend, ein Wanderbuch ausstellen und begab sich als „Candidatus chirurgiae“ auf die Wanderschaft, die ihn schließlich zu weiteren Studien nach Wien führte. 1824 erhielt er aus den Händen des Dekans der medizinischen Fakultät der Universität Wien sein Abschluss-Diplom für „Wundarzneykunst und Geburtshilfe“, das ihm das Recht zur Ausübung dieses Berufes (im Sinne eines praktischen Arztes) einräumte. Dazu muss man wissen: Um die medizinische Versorgung vor allem der ländlichen Bevölkerung sicherzustellen, veranstalteten medizinische Universitäts-Fakultäten Kurse über Wundarzneikunst und Geburtshilfe. Die Absolventen dieser Kurse erhielten ein Diplom vom Dekan der Universität (im Unterschied dazu wurde das Arztdiplom immer vom Rektor der Universität verliehen).
Anschließend ließ sich Johann Emmel als Gemeindarzt in Kaltenleutgeben nieder und übte hier und in der Umgebung mehrere Jahre lang seinen Beruf aus. Da er die Heilkraft des Wassers bereits aus eigener Erfahrung kennen gelernt hatte, faszinierten ihn die Nachrichten, die aus Gräfenberg über die sensationellen Erfolge eines Vinzenz Prießnitz mit Kaltwasserkuren zu vernehmen waren. Um sich aus erster Hand über dessen neu entwickelte Naturheilmethode zu informieren, schloss er 1833 seine Praxis und reiste zu Prießnitz nach Gräfenberg.
Vinzenz Prießnitz (1799-1851), ein Bauer aus Gräfenberg in Österreichisch Schlesien (heute Lázne Jesenik in der Tschechischen Republik) entwickelte auf Grund praktischer Erfahrungen Kaltwasserbehandlungen für verschiedene Krankheitszustände. Er war Autodidakt und, so unglaublich es klingen mag,  Analphabet. 1822 errichtete Prießnitz in Gräfenberg (später Bad Gräfenberg) ein erstes, noch sehr bescheidenes Kurhaus. Bis zu seinem Lebensende behandelte er an die 40.000 Patienten und hinterließ ein stattliches Vermögen.
Angeblich wurde Johann Emmel Prießnitz’ erster Schüler. Jedenfalls schloss er Freundschaft mit ihm und wiederholte im Laufe der Jahre mehrfach seine Studienreisen nach Gräfenberg. Emmel mutierte also zum begeisterten Anhänger der Wasserkur und machte sich, nach Kaltenleutgeben zurückgekehrt, sofort daran hier ebenfallseine Wasserkuranstalt einzurichten. Er pachtete vom Bauern Jenny ein Grundstück mit ergiebiger Quelle und begann 1835 mit dem Kurbetrieb. Die ersten Kurgäste wurden in den benachbarten Bauernhäusern untergebracht. Somit gründete Emmel in Kaltenleutgeben die nach Gräfenberg vermutlich zweitälteste Wasserkuranstalt der Welt. Bald wurden ein ehemaliges Bauerhaus für acht, kurz darauf ein angrenzendes Haus für weitere zehn Kurgäste eingerichtet.
Man muss bedenken, dass es die Zeit des Vormärz und die Ära Metternichs  war,  wobei uns heute allerdings die beschönigende Bezeichnung Biedermeier viel geläufiger und genehmer ist. Es handelte sich hier um eine Zeit, in der Ängstlichkeit die Gemüter erfüllte und eine übertriebene Neigung zu häuslicher Zurückgezogenheit vorherrschend war – kurz und gut, um eine Zeit, die jeglichem Unternehmergeist, dem von Obrigkeitsseite grundsätzlich mit größtem Misstrauen begegnet wurde, total abhold war. Somit war es ein fast tollkühnes Wagnis, am absoluten Höhepunkt dieser Epoche eine Wasserkuranstalt einzurichten und zu betreiben. Bei einem fast schon vorprogrammierten Misslingen wären nicht nur der letzte Sparpfennig Emmels sondern auch sein Ansehen als Arzt verloren gewesen. Johann Emmel sollte denn auch nur zu bald erfahren, worauf er sich da eingelassen hatte.
Bereits wenige Monate nach ihrer Eröffnung wurde die Anstalt behördlich gesperrt und Emmel die Aufnahme von Patienten zur Wasserbehandlung bei strenger Strafe untersagt. Emmel glaubte sich bereits am Ende seiner Träume, da kam ihm ein unerwarteter Zufall zu Hilfe. Zu seinem Glück fuhr die Erzherzogin Sophie, Mutter des nachmaligen Kaisers Franz Josef, auf einer Spazierfahrt von Baden über Heiligenkreuz und die Sulz mit der Absicht nach Kaltenleutgeben, die Wasserheilanstalt zu besichtigen. Neugierig gemacht auf diesen Kurbetrieb hatte sie ihre Begleiterin, eine Gräfin Montenuovo, die kurz zuvor bei Emmel durch Wasseranwendungen von einem schweren Leiden befreit werden konnte und daher nicht genug von dieser Wunderkur zu schwärmen wusste. Johann Emmel durfte der Erzherzogin seine Anstalt zeigen und sie ausführlich über Wasserkuren informieren. Nach nur wenigen Tagen wurde das behördlich verhängte Verbot wieder aufgehoben. Vorurteile, Brotneid, vielleicht auch Bosheit dürften die Auslöser für besagtes Verbot gewesen sein.
 
Den fünften Jahrgang der Kaltbad=Anstalt zu Kaltenleutgeben bey Wien, eröffnet der Unterzeichnete mit dem frohen Bewußtseyn, durch sein zweckmäßiges Unternehmen nicht nur so manchen seiner Mitmenschen wohlthätigen Dienst erwiesen, sondern auch der Menschheit überhaupt in augenscheinlicher Darlegung der im Kaltwasser befindlichen herrlichen Kräfte wesentlich genützt zu haben. Kaltenleutgeben ist schon an und für sich eine Gegend, wo die Gesundheit dem Wanderer auf allen Seiten entgegen blüht und weht. Das köstlichste, reichlichste Trinkwasser ergießt sich in des Unterzeichneten Anstalt Tag und Nacht in die Badewannen und Douchen. Die gänzliche Verpflegung mit Wohnung (wöchentlich 1 fl.), Kost (täglich 40 kr.), Baddiener (wöchentlich 40 kr.), und Badapparaten kommt höchstens auf 9 fl. C. M. die Woche zu stehen. Auch die Häusler im Dorf nehmen Gäste um ein Billiges auf. Täglich fährt ein Stellwagen (Stadt, beym Fürst von Lobkowitzschen Portier Nr. 1101 zu bestellen) zweymahl nach Kaltenleutgeben (Morgens 6 Uhr, und Abends 4 Uhr) und von da wieder nach Wien (Morgens 6 Uhr, Abends 7 Uhr). Eine Fahrt kostet 24 kr., an Sonn= und Feyertagen 30 kr. C. M.
Indem er dem geneigten Publicum seine Dienste bereitwillig anbiethet und in Erinnerung bringt, daß die Wirksamkeit der Kaltbäder um so ergiebiger ist, je früher sie in der Frühlingszeit benützt werden, ladet der Unterzeichnete die Wasserfreunde zu einem zahlreichen Besuche freundlichst ein.
Kaltenleutgeben im März 1840.                                             Johann Emmel, Landarzt.
 
Diese Anzeige erschien am 19. März 1840  im „Allgemeinen Intelligenzblatt zur  Wiener Zeitung“ –  sie zeigt, dass Johann Emmel bereits kräftig die Werbetrommel rührte, indem er sogar Zeitungsannoncen aufgab. Auch der eingangs zitierte Bericht im „Adler“ war wohl von ihm angeregt worden.
Die Zahl der Kurgäste stieg von Jahr zu Jahr, daher musste Johann Emmel stets auf eine Vergrößerung  und Modernisierung seiner Anstalt bedacht sein. Im Endausbau, schon unter seinem Nachfolger und Sohn Karl, waren es bis zu sieben Häuser, darunter das alte Kurhaus von 1835, genannt „Kolonie“, mit zwei Gebäuden, das große Kurhaus, das kleine Kurhaus (auch als „Turmhaus“ bekannt), das Heilgymnastikgebäude (Emmel verfügte ebenfalls über ein Institut für schwedische Heilgymnastik) mit inkludierter Pension sowie der Annenhof. Drei Jahre vor Johann Emmels Tod 1868 etablierte sich Dr. Winternitz  mit einer weiteren Wasserkuranstalt in Kaltenleutgeben, was sich im Laufe der Zeit für Emmel sicherlich spürbar auswirkte, auch wenn Winternitz in erster Linie andere Gesellschaftsschichten (gehobener Adel, gehobenes Bürgertum) zu seiner, zum erheblichen Teil internationalen Klientel zählte.
Zwei der Kinder Johann Emmels, Eduard und Karl, wandten sich ebenfalls dem ärztlichen Beruf zu. Eduard Emmel (1828-1910), der ältere von beiden, schlug zwar zuerst die Offizierslaufbahn ein, eine schwere Erkrankung zwang ihn aber den Militärdienst zu quittieren. Im zweiten Bildungsweg machte er dann in Wien den Dr. med., lebte und praktizierte als praktischer Badearzt in Gräfenberg, wurde Chefarzt des dortigen Militär-Kurhauses vom Weißen Kreuz, publizierte über Wasserheilverfahren und starb 1910 in Gräfenberg, wo er auch begraben wurde.
Karl Emmel (1840-1918) begann 1854 als „Lehrling zur Wundarzneikunde“  bei einem Wundarzt (vermutlich bei seinem Vater). 1857 wurde er von seinen Lehrjahren losgesagt und zum „wundärztlichen Gehilfen“ erklärt, 1861 erhielt er an der Karl Franzens-Universität in Graz sein Diplom als Wundarzt und Geburtshelfer und durfte nun praktizieren. 1863 bekam er dann auf Grund seines Befähigungsdiplomes vom Bezirksamt Mödling das von seinem Vater zurückgelegte chirurgische Gewerbe für Kaltenleutgeben verliehen. Wie sein Vater und sein Bruder hatte auch er sich mit Leib und Seele dem Wasserheilverfahren verschrieben und baute nunmehr seine Kuranstalt weiter aus. Besonders bei den Wienern stand gerade die Kuranstalt Emmel hoch im Kurs.
Auch Emmel leistete sich  – wie sein „Konkurrent“ Winternitz  – ein Gebäude, in dem Theater gespielt werden konnte. Vorerst nur als „Curtheater“ bezeichnet, erhielt es später, offensichtlich in Anlehnung an das Carl-Theater in der Wiener Leopoldstadt, die Bezeichnung „Carl Emmel Theater“. Zwei Theaterzettel (von 1881 und 1884) sind erhalten geblieben, die uns von Laienaufführungen in Kenntnis setzen, welche vermutlich unter Einbeziehung von Kurgästen über die Bühne gegangen sind. Darüber hinaus diente das Theater aber auch anderen Unterhaltungszwecken. So standen neben Einaktern und Parodien auch humoristische Vorträge und Lesungen auf dem Programm.
Wie bei Winternitz, so brachte auch bei Emmel der Erste Weltkrieg den großen Knick. Beide Kuranstalten konnten nur mehr auf Sparflamme weitergeführt werden. Nicht nur dass ihre beiden Repräsentanten beinahe innerhalb Jahresfrist verstarben, es musste auch noch die Durststrecke von einigen Jahren überdauert werden. Als es dann wirtschaftlich wieder aufwärts ging, hatte allerdings nur die Kuranstalt Winternitz mit ihrer eher international ausgerichteten Klientel die Nase vorne.
Das weitere Schicksal der Emmel’schen Wasserkuranstalt ist rasch erzählt:
Da die Kuranstalt als solche nicht mehr profitabel zu führen war, wandelten die Erben nach Karl Emmel (Witwe Anna und die Söhne Bruno und Siegfried) die Wasserheilanstalt in den zwanziger Jahren in einen Beherbergungsbetrieb („Pension Emmel“) um. Dem späteren Versuch (1932), eine Erweiterung der bestehenden Konzession auf Hotelbetrieb zu erlangen, war allerdings kein Erfolg beschieden. 1950 starb mit Oberst i. R. Siegfried Emmel, dem 79-jährigen Enkel des Gründers der Anstalt, der letzte Träger dieses Namens in Kaltenleutgeben.  Nach Ankauf der „Emmelgründe“ mit dem ehemaligen Kurpark samt Quelle und den restlichen Kurgebäuden  –  dem großen und dem kleinen Kurhaus („Turmhaus“)  –   durch die Marktgemeinde konnte zwischen 1988 und 1990 die Totalrenovierung des Hauptgebäudes (Hauptstraße 110) erfolgen. Es wurde hier dringend benötigter Wohnraum  für junge Familien geschaffen.
Das sog. Turmhaus wurde weiter verkauft und wird seit 2005 ebenfalls generalsaniert. Hier sollen Mietwohnungen eingerichtet und ein Gewerbetrieb angesiedelt. werden.