Peter Nics
Kaltenleutgeben von damals bis heute
4. Fortsetzung
Die ,,gute alte Zeit" geht nun langsam, aber sicher zu Ende. Nur noch für wenige Jahre des neuen Jahrhunderts werden Ruhe, Ordnung und relativer Wohlstand herrschen, wird das " alte" Kaltenleutgeben die Früchte genießen können, die tüchtige Zuwanderer und bodenständiger Fleiß reifen haben lassen. 1910 wandelt Hoftat Winternitz seine „Wasserheilanstalt Professor Wilhelm Wintenitz“, deren einziger Besitzer er seit nunmehr 45 Jahren ist, in eine Aktiengesellschaft um, die unter dem Titel "Wasserheilanstalt Professor Wilhelm Winternitz A.G." (W.W.A.G.) ins Handelsregister eingetragen wird.neben den beiden Kuranstalten gibt es den Großbetrieb der k. k. Forst- und Domänen-Direktion Wien (heute Österreichische Bundesforste) mit 3 Förstern im Ort, 22 Bauern und Kleinbauern und sogar einen Rinderzuchtverein; an industriellen Betrieben 2 Zementfabriken (Stollwiese und Kardinalwald - beide wurden im Ersten Weltkrieg stillgelegt und nie mehr in Betrieb genommen), 1 Kalkwerk (Kaltbrunn) und 3 Steinbruche sowie jede Menge Geschäfte und Handwerker (darüber weiter unten).
Der Erste Weltkrieg
Dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) muss leider auch Kaltenleutgeben schweren Tribut zollen.
Fast alle wirtschaftlichen Aktivitäten kommen nach und nach zum Erliegen. Die katastrophale Dürreperiode des Jahres 1917 - von Anfang Mai bis Mitte August gibt es nur einen einzigen, ganz kurzen Gewitterregen - wirkt sich dementsprechend auf die Versorgungslage (kein Gras bzw. Heu, um das Vieh zu ernähren) aus.
Sowohl Wilhelm Winternitz als auch Karl Emmel erleben das Kriegsende nicht mehr: Winternitz stirbt 1917, 82jährig, drei Monate nach Kaiser Franz Josef; Emmel, 77jährig, knapp vor Kriegsende. Und 70 Kaltenleutgebner kehren nicht mehr aus dem Krieg zurück.
Krisenjahre
So wie die neuerstandene Republik belasten die Folgen des Krieges auch Kaltenleutgeben für lange Zeit. Mit dem Kaltenleutgebner Paradewirtschaftsunternehmen, der Winternitz sehen . Wasserkuransta1t, geht es bergab. Nicht nur, dass die Genialität und die bis zuletzt ungebrochene Vitalität des Gründervaters fehlen, auch der Zerfall der österreichischungarischen Monarchie und die Verarmung ihres Großbürgertums - aus beiden rekrutiert sich vor dem Krieg der Großteil der Kurgäste - tragen wesentlich zum Niedergang bei. Die fehlenden zahlungskräftigen Patienten und der allgemein herrschende Geldmangel machen aber auch dringend notwendige Investitionen unmöglich, so dass die medizinischen Anlagen der Anstalt rasch veralten. Als spät.. aber doch der Wirtschaftsaufschwung wieder einsetzt, ist man einfach nicht mehr konkurrenzfähig. Überdies haben sich mittlerweile die Heilverfahren in andere Richtungen hin zu entwickeln begonnen.
Da im ganzjährig geführten Kurbetrieb eine stattliche Zahl von Kaltenleutgebnern beschäftigt ist und somit die Kuranstalten die wichtigsten Arbeitgeber in der Gemeinde sind, greift nun die allgemeine Arbeitslosigkeit auch hier um sich. Zum Glück bleibt Kaltenleutgeben - sieht man von den Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahren ab - weiter eine bevorzugte Sommerfrische für die Wiener. Aus diesem Grund stellt sich die Emmel'sche Kuranstalt in den zwanziger Jahren auf Pensionsbetrieb um.
Damit man sich eine Vorstellung vom - im Verhältnis zu heute - immer noch regen Wirtschaftsleben machen kann soll folgende Auflistung der Mitte der zwanziger Jahre existierenden Geschäfte und Gewerbebetriebe (die Namen aller InhaberInnen sind überliefert) dienen: eine Apotheke, zwei Autovermietungen, zwei Bäcker, eine Badeanstalt (mit Freibad), ein Bauunternehmer, ein Binder, ein Dachdecker, neun Einspänner, zwei elektrische Bedarfsartikelhändler, ein Fahrrad- & Nähmaschinenhandel, drei Fiaker, ein Flaschenbierhande1, drei Fleischhauer & Selcher, drei Friseure, neun Fuhrwerker, ein Futtermittelhandel, zwei Gärtner, fünfzehn Gastwirte, vierzehn Gemischtwarenhändler, ein Glaserei, ein Gold- & Silberwarenhandel, eine Hebamme, neun Holzhändler, ein Hotel (im. damals noch zu Kaltenleutgeben gehörenden Wassergspreng), drei Kaffeehäuser, ein Kalkhandel, ein Kalkwerk (Kaltbrunn), ein Kammmacher, ein Kino, eine Kistenerzeugung, ein Kleiderhandel, ein Kohlenhandel, drei Kurzwarenhandlungen [= verschiedene Kleinwaren, insbesondere Kleidungszubehör & Modewaren], ein landwirtschaftlicher Maschinenhandel, eine Lottokollektur, zwei Maler & Anstreicher, eine Maschinenstrickerei, ein Maurermeister, eine mechanische Werkstätte, ein Milchgeschäft, eine Musikschule, zwei Pensionen, ein Photograph, ein Rauchfangkehrer, ein Sägewerk (in Wassergspreng), ein Sarghandel, ein Sattler, zwei Schlosser, ein Schmied, drei (Herren)Schneider, vier (Damen)Schneiderinnen, drei Schnittwarenhandlungen [= Stoffe in Meterware], drei Schotterwerke, sieben Schuhmacher, ein Tapezierer, ein technischer Bedarfsartikelbandel, ein Tischler, ein Uhrmacher, elf Viktualienhandlungen [= Lebensmittelgeschäfte, Greißler ], vier Wäscherinnen, ein Wäschehandel, ein Wagner, ein Waschmaschinenhandel, ein Wollwarenhandel, ein Zeitungsverschleiß, ein Zimmermeister, zwei Zuckerwarenhandlungen.
Der nunmehrige ärztliche Leiter der Winternitz'schen Kuranstalt, Professor Dr. Alois Strasser, ein ehemaliger Assistent des Professors und ebenfalls ein ganz hervorragender Mediziner, kann den Niedergang nicht mehr aufhalten und muss dem Vorstand der W.W.A.G. Ende 1934 (in diesem Jahr kann gerade noch ausgeglichen bilanziert werden) zum Verkauf raten. Es wird der Gemeinde Kaltenleutgeben das Angebot unterbreitet, die Kurailsta1t mit allem Drum und Dran für nur 200.000,- Schilling (an die 7 Millionen. nach heutigem Geldwert) zu erwerben, obwohl der tatsächliche Wert rund eine Million beträgt. Aber in Anbetracht des gewaltigen. Frequenzrückganges und unter Bedachtnahme auf die erforderlichen beträchtlichen Investitionen in einer Zeit, deren Wirtschaftslage als verzweifelt einzustufen ist, muss ein solches Angebot sehr gründlich geprüft und alles Für und Wider genauestens erwogen werden.
In dieser Phase tritt ein Spekulant - Spekulieren ist damals eine gern geübte Tätigkeit, um mit etwas Glück rasch viel Geld zu verdienen - auf den Plan und. erwirbt die Aktienmehrheit. 1935 wird die bisherige W.W.A.G. in eine neue Aktiengesellschaft umgewandelt und unter dem Titel " Kurhäuser Kaltenleutgeben A. G. “ (K.K.A. G.) ins Handelsregister eingetragen.
In einer Wiener Tageszeitung ist am 6. Juni 1935 zu lesen: "Man will ein großes Freibad mit 1500 Kabinen errichten, die bereits installiert werden. Die Einrichtung für schwedische Gymnastik wird auf den modernsten Stand gebracht, die allerneuesten Röntgenapparaturen
sollen aufgestellt und dem Waldhang entlang, an dessen Fuße die Kuranstalt liegt, Höhenstraßen, Autofahrbahnen und Spazierwege errichtet werden. .. Es existiert sogar ein Farbprospekt, der auf diese Pläne abgestimmt ist.
In Wahrheit wird die Lage immer prekärer, die Verluste werden von Jahr zu Jahr größer, und Ende 1937 muss die Konkurseröffnung angemeldet werden. Wer allerdings damals noch der Meinung ist, das wäre ein Ende mit Schrecken, muss nur zu bald erkennen, dass es ein Schrecken ohne Ende wird.
Das Schidorf der Wiener
Kaltenleutgeben ist nach wie vor in der glücklichen Lage, sich als Sommerfrische großer Wertschätzung zu erfreuen. Was nun erfreulicherweise hinzukommt, ist seine wachsende Beliebtheit als Wintersportort. Vor allem in den dreißiger Jahren werden an zahlreichen Wintersonntagen Sonderzüge sowohl von Liesing als auch vom Wiener Südbahnhof geführt. Tausende Wintersportler, vor allem Schifahrer, tummeln sich dann auf den Hängen und Wiesen (wie Bahnwiese, Wienerwiese, Wienerblick, Gaisberg, Biermeierwiese, Norwegerwiese), die für die damaligen Möglichkeiten und Bedürfnisse geradezu ideal zu nennen sind. Kaltenleutgeben - das Schidorf der Wiener !