Peter Nics
Kaltenleutgeben von damals bis heute
23. Fortsetzung
Erinnerungen
Ein Besuch der Eisgrabenhöhle, in der eine Kaltenleutgebnerin vor sechs Jahrzehnten als junges Mädchen in den Schreckenstagen 1945 vorübergehend Zuflucht gefunden hatte, ließ längst verdrängte Erinnerungen wieder lebendig werden. Sie brachte diese zu Papier und überließ die Niederschrift der Marktgemeinde zur eventuellen Veröffentlichung. Unseren Ortsbewohnerinnen, die mehrheitlich das große und unschätzbare Glück haben in unserem Land nur Friedenszeiten zu kennen und den Krieg nur über die Medien, soll damit gezeigt werden, dass es auch in unserem Ort bei Gott nicht immer so friedlich zugegangen ist.
"ALS DIE RUSSEN NACH KAL TENLEUTGEBEN KAMEN!"
Erlebnisbericht von Frieda Kulhanek.
3. April 1945:
Am Osterdienstag, dem 3.ApriI1945, drei Tage bevor die Russen nach Kaltenleutgeben kamen, musste ich nach Mauer zur Firma Lahner Wurstwaren holen. Ich musste alles im Rucksack tragen. Die Straßenbahn nach Rodaun fuhr nicht mehr; es war durch Bombenangriffe alles kaputt. Am Rückweg über den Maurerberg ging ich die Trasse der Straßenbahn entlang. Man hörte schon den Kanonendonner von weitem. Nichts als wie auf dem schnellsten Weg zu Fuß nach Hause. Im Ort wurden Frauen und Kinder evakuiert und nach dem Westen gebracht. Es lag Angst vor dem Kommenden in den Menschen. Die russischen Truppen kamen immer näher, noch funktionierte der Drahtfunk, denn es war streng verboten diesen abzuhören. Die Bombenangriffe mehrten sich und alles kam näher.
4. April 1945
Mit Bekannten beschlossen wir, in der Früh mit unseren Habseligkeiten, Dokumenten und Schmuck in einem kleinen Koffer, etwas zum Essen sowie einer Decke unser Heim zu verlassen und in den Bunker oberhalb der Eiswiese zu gehen. Diesen hatte die Firma Perlmooser für die Arbeiter im Steinbruch aus dem Felsen herausgesprengt. Es waren schätzungsweise ca. 50 Personen, in der Mehrzahl Frauen und Kinder sowie einige Männer, im Bunker. In der Mitte des Bunkers befand sich eine Bretterwand. Meine Schwiegermutter, Marie Kulhanek, und ich saßen ziemlich am Ende des Bunkers. Mehrere Frauen hatten, Säuglinge mit. Vor Aufregung und Angst konnte man in der Nacht nicht schlafen. Es hielt immer wer Wache.
5. April 1945
Zeitig in der Früh ging ich mit Frau Thuma in den Ort hinunter, fütterte die Hasen und holte vom Eiskasten im Geschäft eine Stange Krakauer heraus. Man hörte schon Gewehrschüsse,
die immer näher kamen. Wir liefen daraufhin so schnell wir konnten den Berg auf .
Abschneidern hinauf. Den ganzen Tag hörten wir die Schießerei, hin und her zwischen den Russen auf der Seewiese bzw. auf dem Gaisberg und den Deutschen auf dem Doktorberg. Es hieß, im Ort sollen schon einige Häuser brennen!
6. Apri11945
Vormittag, zeitig in der Früh, es dauerte nicht lange, da hieß es die Russen kommen schon. Die Angst stieg. Man wickelte mich in eine Autodecke ein, strich mein Gesicht mit feuchter Erde an um älter zu wirken. Die Schüsse kamen näher. Auf einmal, ohne vorher etwas zu hören, knallten Schüsse durch die Bretterwand des Bunkers von der drüberen Seite. Schmerzensschreie! Es waren mehrere Personen verletzt. Frau Laibl am ärgsten, sie hatte einen Lungenschuss und blutete stark. Vor dem Bunker war jemand mit einer weißen Fahne. Frau Fieglmüller, Schustermeistersgattin, war geborene Polin und konnte sich mit den Russen verständigen. Man brachte einen russischen Arzt herbei, der die Verletzten so gut es ging versorgte. Später wurden die Männer aus dem Bunker gezerrt und man brachte sie weg. Nachher fand man sie auf der Seewiese alle erschossen auf.
Aber es ging dann erst richtig los; man wollte junge Mädchen haben.
Zum Teil nahmen sie Schmuck und Uhren weg. Frau Wagner warf ihren ganzen Schmuck auf den Boden; es wurde alles zertrampelt und so wurde später nie mehr was gefunden. Zu den Mädchen: Zwei Frauen opferten sich freiwillig. Sie lagen nachher viele Wochen im Krankenhaus. Man hat uns junge Frauen und Mädchen verschont, wofür wir unser Leben lang dankbar sind.
7. April 1945
Nach drei Tagen und drei Nächten ohne Essen, ohne Trinken und ohne Schlaf, ja nicht einmal auf die Toilette konnte man vor lauter Angst gehen, wurde es ruhig. Man hörte keine Schüsse mehr. Jetzt wagte man sich vorsichtig hinaus. Es hatte die letzte Nacht geregnet; am Weg zur Straße waren Regenlachen, meine Schwiegermutter bückte sich und trank aus der Hand, wo sie doch so eine heikle Person war, aber der Durst war größer. Wir gingen vorsichtig den Großen Eisgraben zur Kirche hinunter. Unser Weg führte uns zu Herrn Horatschek, dessen Haus neben der Kirche ist (Pfarrgasse 8). Man kannte sich gut, war er doch seinerzeit in der Kuranstalt angestellt. Wir baten ihn den Koffer mit dem Geld, Schmuck und den Dokumenten zu verstecken. Er vergrub den Koffer im Kohlenkeller. Dann begleitete er uns durch den Garten zur Promenade und zum Kaufmann Ludwig (Hauptstraße 100). Heinrich, ein Pole, der Zwangsarbeiter war, ging mit uns zum Geschäft und zur Wohnung der Schwiegermutter (Hauptstraße 81). Auf der Straße tote Pferde, Soldaten, ausgebrannte Häuser. Wir kamen zum Geschäft, im Garten alles voll Stroh und Heu, Pferde und Soldaten, die Geschäftstür eingeschlagen. Im Nu waren zwei Russen bei uns und fragten was wir wollen. Herr Heinrich sagte, es sei die Besitzerin und man wolle aus dem Geschäft Lebensmittel holen. Der Russe hob mich daraufhin bei der kaputten Tür hinein. Die zerstörte Ware lag so hoch wie die Pudel, ich stand mit dem Kopf am Plafond an. Mein Herz klopfte, die Schwiegermutter sagte, ich solle in den Eiskasten schauen, dort habe sie eine Tasche, warme Hosen und Strümpfe versteckt. Es war alles zum Glück noch da. Ich suchte ein Paar Kathreiner Kaffeepackerln, welche noch ganz waren, und ein paar andere Sachen zusammen. Dann wagte ich mich ins Schlafzimmer um nachzuschauen. Alles durchwühlt; in den Betten hatten Russen geschlafen; in der Küche wurde am offenen Herd gebraten; durch die Glastür sah ich die Soldaten. Ich bekam Angst; sah noch den Photoapparat im Schlafzimmer liegen, schnappte ihn und schwups war er hinter den Betten. Übrigens er lag nach unserer Rückkehr noch immer dort. Jetzt wurde es kritisch; die Soldaten bemerkten mich; rasch hinaus ins Geschäft; man hob mich hinaus; Gott sei Dank ging alles gut. Jetzt hinunter zum Lindenhof (Hauptstraße 58). Das Zimmer im ersten Stock: die Türen eingeschlagen; die Kästen brachten die Russen nicht auf, warfen sie einfach um und schlugen die rückwärtige Wand ein. Drei Viertel der Kleider, davon die schönsten und besten Anzüge, waren weg. Tante Ilka Czitober hatte von Wien Herberts Harmonika und Kleider' gebracht in der Annahme, am Land sei es sicherer; aber es war falsch; alles war gestohlen! Durch das kaputte Fenster schaute ich hinunter auf die Stephaniegasse; da lag Herr Ing. Kund tot. Es war schrecklich! Abends schliefen wir alle in der Wohnung der Familie Gschwandtner am Boden, da nur die Ehebetten vorhanden waren. Herr und Frau Gschwandtner, Frau Kohout, Herr und Frau Grumböck, Peperl Grumböck, Frau Vaidis mit den Töchtern Hilde und Elke, die Schwiegermutter und ich.
8. April 1945
Am nächsten Morgen, so gegen 6 Uhr früh, wurden wir durch einen lauten Schuss wach; es wurde der Schlot der Zementfabrik beschossen (vom Maurerberg her) und ein Treffer landete auf der Straße direkt vor unserem Eingangstor. Wir zitterten am ganzen Körper; gegen Mittag wagten wir uns erst zurück ins Geschäft und in die Wohnung auf Hauptstraße 81 hinauf. Gott sei Dank! Russen und Pferde weg; man konnte wieder daheim sein. Es folgten Tage, an denen man nicht wusste wo man anfangen sollte! Abends musste man verdunkeln und durfte nicht auf der Straße sein.
Es nahte der erste Mai! Die Soldaten, die einzigen auf der Straße. Im Heinrichshof war der russische Kommandant einquartiert. Eines Nachts hörten wir über den Zaun einen Sprung; an der Wohnungstür mit dem Gewehrkolben Schläge; wir zitterten in den Betten und rührten uns nicht. Dann ein Schuss, er ging seitlich in den Fensterstock im Schlafzimmer. Wir waren wie gelähmt und zum Glück kam kein Laut über unsere Lippen. Dann Stille!
Täglich hörte man abends immer, wie die Frauen mit den Hafendeckeln Lärm machten; ein Zeichen: Russen im Anzug wegen Frauen! Bei Herrn von Lederer, Hausherr der Schwiegermutter, war das Ehepaar Preitl mit Tochter Berta, 35 Jahre alt, in einem Kabinett einquartiert. Sie waren in Wien ausgebombt.
Ein anderes Mal, es war schon hell, so gegen 6 Uhr; wir waren schon auf; ich war in der Küche; da auf einmal russisches Gerede vor dem Haus - man hörte alles sehr gut, da die Fenster und Türen kaputt waren -, wieder ein Sprung über den Zaun und ich war schon in der Wohnung von Herrn von Lederer. Ins Kabinett von Herrn Preitl hinein, Berta hinter mir und wie auf Kommando hinter den Diwan, wo Herr Preitl saß. Nachher sagte Herr Preitl zu uns, er hat er hat durch den Diwan gespürt, wie unsere Körper gezittert haben. Ein paar Minuten später stand ein Russe im Kabinett, suchte nach uns. Wir sahen nur die Stiefel. Herr Preitl zeigte seinen abgeschossenen Fuß her und sagte; "vom Bum, Bum; - die Bomben!" Der Russe drehte sich um und stöberte in Herr von Lederers Wohnung; fand nichts, ging noch auf den Dachboden, dort auch nichts! Im Vorhaus stand hinter einem Verschlag ein neues Fahrrad" das nahm er mit, schaute bei meiner Schwiegermutter noch in die Küche hinein und zeigte, er brauche eine Radpumpe. Sie verneinte; er ging mit der Beute weg!
Als wir den Schock verdaut hatten, entschlossen wir uns noch am selben Tag, Berta und ich, nach Wien in die Bellaria zum Kommandanten von Wien zu gehen. Gesagt getan; die Angst begleitete uns den ganzen Weg; wir hatten Glück! Berta durfte vorsprechen und alles erzählen, in Englisch!
Der Kommandant veranlasste daraufhin Streifen bei uns in Kaltenleutgeben. Man fing ein paar Tage hindurch mehrere Lastwagen voll Soldaten. Es stellte sich dann heraus, es seien 'Wlassow-Truppen", die mit den Deutschen gekämpft hatten. Die gleiche Nacht verbrachte ich bei Tante IIka in Wien. Und in selbiger Nacht wollten auch dort russische Soldaten in das Haus. Aber der Hausmeister machte nicht auf. Ich konnte nachher ruhig schlafen. Ich blieb ein paar Tage in Wien und kehrte dann nach Kaltenleutgeben zurück. Von diesem Tag an kehrte Ruhe und Friede im Ort ein. Man lud nämlich die Soldaten und die Bevölkerung in den ehemaligen Kursalon zu Tanz und Musik. Es kam nie wieder etwas vor! Ich möchte niemandem wünschen so eine schlimme Zeit durchmachen zu müssen!
Es dauerte, bis der Verkehr wieder funktionierte; ich ging dreimal die Strecke von Wien nach Mannersdorf/Leitha. Einmal mit meinem Vater - der Zug war voll, selbst auf den Dächern der Waggons lagen die Menschen - , abends von Wien weg, erreichten wir gegen 1 Uhr in derFrüh Mannersdorf. Rodaun/Kaltenleutgeben zu Fuß war eine Selbstverständlichkeit; es gab nur Pferdewagen.