Folge 25 - Los von Wien!

Peter Nics

Kaltenleutgeben von damals bis heute

25. Folge  

Los von Wien !
Vor 50 Jahren wurde Kaltenleutgeben wieder eine selbstständige niederösterreichische Gemeinde, nachdem es 16 Jahre lang als Teil des 25. Bezirkes zu Wien gehört hatte.

Zur Vorgeschichte:
Im März 1938 verlor Österreich seine Selbstständigkeit und bereits ein halbes Jahr später wurden 97 (!) niederösterreichische Orts- und Stadtgemeinden im Wiener Umland, darunter auch Kaltenleutgeben, nach Wien eingemeindet und auf fünf neu geschaffene Bezirke aufgeteilt. Zwar anerkannten die vier Besatzungsmächte nach Kriegsende diese Eingemeindung niederösterreichischer Gebiete nicht, als aber die Landtage von Wien und Niederösterreich 1946 in einem Gebietsänderungsgesetz beschlossen, dass 80 Gemeinden wieder nach Niederösterreich zurückkehren sollten (bei Wien sollten vor allem jene bleiben, die seinerzeit ans Wiener Stadtgebiet grenzten), legte sich die sowjetische Besatzungsmacht quer. Und da es sich um ein Gesetz im Verfassungsrang handelte, hätte es von allen vier Besatzungsmächten einstimmig genehmigt werden müssen um Rechtskraft zu erlangen. Erst 1954 zog die Sowjetunion ihren Einspruch zurück.
Das acht lange Jahre dauernde Randgemeindenproblem drängte aber die betroffenen Gemeinden in eine Außenseiterrolle, denn sie wurden zwar von Wien verwaltet, waren aber im Wiener Gemeinderat nicht mehr vertreten. Nur eine Person, nämlich der jeweilige Ortsvorsteher, hatte eine beratende Stimme in der Körperschaft „Bezirksrat Liesing“. Auch zeigte Wien bei jenen Gemeinden, die ihre Selbstständigkeit wiedererlangen sollten, verständlicherweise geringere Investitionsbereitschaft als bei den verbleibenden. So dauerte es beispielsweise fast acht Jahre, bis die ausgebrannte Kaltenleutgebener Volksschule wieder bezogen werden konnte.
Allerdings wollten nun viele Bewohner betroffener Gemeinden in Wiens näherer Umgebung nicht mehr unbedingt nach Niederösterreich zurück Auch in Kaltenleutgeben wurden zahlreiche Stimmen laut, die für einen Verbleib bei Wien votierten. Es wurde eine „Notgemeinschaft fürdemokratische Befragung der Gemeinden des Bezirkes Mödling“ ins Leben gerufen, in Postwurfsendungen an alle Wohnparteien Mitbestimmung gefordert, und alle Mitbürger/innen waren aufgefordert sich aktiv an einer Willenskundgebung am 29. August 1954 zu beteiligen. In der kulturpolitischen Wochenschrift „Die österreichische Furche“ vom 26. Juni 1954 war zu lesen: ... Die Einwohner der Orte von Perchtoldsdorf bis Mödling haben genaue gleiche Interessen wie die der Gemeinden von Mauer bis Liesing. Es ist nicht einzusehen, warum die einen an Wien angeschlossen, die andern an Niederösterreich zurückgegeben werden sollen. Eine natürliche Grenze besteht nicht, eine planmäßige Verbesserung der Verkehrsverhältnisse und alle Arten Versorgung ist notwendig, eine Aufgabe, die nur der Stadt Wien angelastet werden kann. ... die Gemeinden am Liesing- und Mödlingbach sind derart eng mit Wien verbunden und von der fortschreitenden Überwältigung durch städtische Siedler ... bedroht, daß schon im Interesse der Erhaltung des Erholungsgebietes der Wiener ihre Eingemeindung gefordert werden muß. ... Mancher Leser wird fragen, warum denn eine Stadtgrenze in einem demokratischen Staat überhaupt von der Obrigkeit festgelegt werden müsse und nicht durch Volksabstimmung. 
Am Abstimmungstag gab in Kaltenleutgeben tatsächlich eine große Mehrheit in geheimer Wahl ihre Stimme im Sinne der „Notgemeinschaft“ ab (über die Wahlbeteiligung sind keine Angaben überliefert). In Wirklichkeit waren aber alle diese Überlegungen  rein theoretischer Natur, denn es
geschah nichts anderes, als dass das 1946 gültig beschlossene Trennungsgesetz nun endlich Rechtskraft erlangten konnte. Die Bürger/innen waren allerdings auch 1946 nicht über ihre Meinung befragt worden, geschweige denn 1938. Bei jeder Veränderung hätte man ein neues Gesetz mit Zweidrittelmehrheit beschließen und es neuerdings vom Alliierten Rat absegnen lassen müssen.
Das Gesetz trat am 1. September 1954 in Kraft. Die überwiegende Mehrheit jener 13 Gemeinden, die 1938 zum neu geschaffenen 25. Bezirk (Liesing) vereinigt worden waren, nämlich acht, blieben  endgültig bei Wien. Es handelte sich dabei um die Stadtgemeinde Liesing, die Orts- bzw. Marktgemeinden Atzgersdorf, Erlaa, Inzersdorf, Kalksburg, Mauer, Rodaun und Siebenhirten, die nun zu einem (neuen) 23. Bezirk (Liesing) zusammengefasst wurden. Nur Breitenfurt, Perchtoldsdorf, Vösendorf und Laab kehrten zusammen mit Kaltenleutgeben nach Niederösterreich zurück und wurden dem politischen Bezirk Mödling eingegliedert. Die übrigen Nachbargemeinden wie Sulz, Dornbach, Grub, Sittendorf, Gaaden,  Heiligenkreuz, die selbstverständlich auch wieder niederösterreichisch wurden, gehörten ja bereits zum 24. Bezirk (Mödling).
Sofort am 1. September 1954 trat ein ernannter Gemeinderat zusammen und wählte den Bürgermeister und den Gemeindevorstand. Das Verhältnis der letzten Nationalratswahl 1953 bestimmte die Zahl der Mandatare: 7 von der SPÖ, 5  von der ÖVP, 1  von der KPÖ. Zum Bürgermeister wurde der bisherige Ortsvorsteher Leopold Macher (SPÖ) gewählt, zu seinem Stellvertreter August Haunzwickl (SPÖ). Die neu konstituierte Gemeinde galt aber – wie auch alle anderen rückgegliederten Gemeinden – als Neugründung und nicht als Rechtsnachfolger der politischen Gemeinde vor 1938, obwohl damals die Vermögenswerte der alten Gemeinde, die Heimatrechte der Einwohner/innen etc. von der Gemeinde Wien übernommen worden waren. Eine gemischte Kommission der Länder Niederösterreich und Wien hatte sich auf diese Rechtsmeinung geeinigt, die daraus entstehenden Nachteile mussten die neuen Gemeinden allein tragen. Wohl wurden die gemeindeeigenen Grundstücke und Häuser wieder in das Gemeindeeigentum übertragen und die Angestellten zurücküberstellt, aber ursprüngliche günstige Verträge, etwa über Gas- und Stromlieferungen (besonders auch für die öffentliche Beleuchtung) lebten nicht mehr auf. Die im Besitz der alten Gemeinde Kaltenleutgeben befindliche Autobuskonzession (Liesing – Kaltenleutgeben) hatte die Gemeinde Wien der Bundesbahn übertragen, und damit war auch das Mitspracherecht bei Fahrplan und Fahrpreis verloren gegangen.
Architekt Rudolf Weiß, letzter Bürgermeister der alten Ortsgemeinde und nun geschäftsführender Gemeinderat, vermerkte in seiner „Chronik“, dass bei den zurückerstatteten Akten und sonstigem Eigentum der Gemeinde Kaltenleutgeben nicht nur die Rolle der Katastralmappen, welche, zusammengeklebt, das ganze Ortsgebiet in Farben zeigte, fehlte, sondern auch das unersetzliche Original der Katastralmappe von 1818, das überaus genau alle Quellen eingezeichnet hatte. Drei alte Bilder aus der Zeit um 1800 wurden ebenfalls nicht mehr zurückgegeben.
Der Gemeinderat war noch nicht einmal konstituiert, da lag auch schon ein Ansuchen der auf dem GutTirolerhof neu errichteten SiedlungTirolerhof die Wasserversorgung betreffend vor. Vom Wiener Stadtbauamt war nämlich, ohne zu überprüfen, ob eine ausreichende Wasserversorgung gewährleistet sei, der Bau von 16 Einfamilienhäusern genehmigt worden. Die Folge davon war, dass das Trinkwasser täglich von der Brunner Feuerwehr zugeführt werden musste und die vorhandenen WC-Anlagen und Bäder unbenutzbar blieben. Zwar konnte für die Wasserversorgung schließlich eine dauerhafte und allgemein befriedigende Lösung gefunden werden, dafür aber stellten nun die Siedler den Antrag auf Eingemeindung des Gebietes Tirolerhof – Schirgenwald nach Perchtoldsdorf. Eine Gebietsabtrennung konnte jedoch noch erfolgreich verhindert werden.