Peter Nics
Kaltenleutgeben von damals bis heute
21. Fortsetzung
Dr. Winternitz entdeckt Kaltenleutgeben
1865 sucht der junge, aber bereits renommierte Arzt Dr. Wilhelm Winternitz einen geeigneten Ort, um seine Theorien von der Heilkraft des natürlichen Wassers, die er als Dozent an der Wiener Universität lehrt, auch in die Praxis umsetzen zu können. Denn seiner Lehre nach sollen alle Schäden und Wunden der Zivilisation ausgebessert und geheilt werden durch den grossen Arzt, der sein Diplom von Gottes Allmacht erhalten, durch die mächtige Wohlthäterin, die Natur, Rückkehr zur Natur heisst diese grosse Medizin.
Ganz bewusst sucht Winternitz diesen Ort im unmittelbaren Umfeld der Haupt- und Residenzstadt Wien, denn realistischerweise nimmt er an, daß seine zukünftige Klientel - seiner Erwartung nach vor allem Beamte, Industrielle und Gelehrte - sich nicht allzu weit vom Zentrum ihrer beruf1ichen Tätigkeit entfernen möchte. Dass sein rasant steigender Bekanntheitsgrad bald andere Maßstäbe setzen wird, kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen. So fällt seine Wahl auf ein wasserkurmäßig nicht mehr ganz unbekanntes Tal, das er so charakterisiert:
Unter den Prachtbauten dieses Naturtempels nicht die letzte Stelle fürwahr nimmt, kaum eine Stunde von dem Brennpunkte Wien entfernt, ein reizendes Thal ein, in dem gar Mancher schon, der in dem Brennpunkte sich verbrannt, Hilfe und Heil gefunden. Das Thal von Kaltenleutgeben.
Den Eindruck, den ihm das Tal und die Ortschaft vermitteln, hält Winternitz in einer einschlägigen Broschüre fest, die er vier Jahre später veröffentlicht:
Hat man ...sich eingefädelt in den schluchtartigen Engpass des Kaltenleutgebener Thales und lässt sich von, der schattigen Hügelallee weiter geleiten an, der traulichen Waldmühle, einem beliebten Restaurationsorte der Wiener, vorüber, so treten die Bergreihen auf einige Hundert Schri(te auseinander; und man tritt in das anheimelnde liebliche Thal von Kaltenleutgeben.
Berge sind plötzlich zwischen uns und die Wiener Ebene getreten, von allen Seiten sind wir umfangen von den mannigformigen, meist bis zum Gipfel bewaldeten Bergen, freundliche Häuschen und Häuser, jedes isolirt in seinem Garten, diess architectonisch, jenes national geschmückt, umstalten das ganze Thal zu einem Gärtchen mit den verschiedenen Lusthäuschen und den umfassenden Bergen als. Zaun. In der Thalsohle schlängelt sich ein munteres Gebirgsbächlein, mit den blumigen Ufern kosend in mannigfachen Windungen, als ob es nicht lange genug in dem Thale verweilen könnte, hindurch...
Unser Thalgrund wird in seiner ganzen Länge .., von dem Bache der dürren Liesing durchschlängelt. Die das Thal bildenden Ausläufer des Wienerwaldes erreichen die Höhe von 1500 Fuss (474 Meter) und sind durchwegs mit schönen Buchen-, Eichen- und Fichtenwaldungen bedeckt, welche sich an vielen Stellen bis zur Thalsohle, Schatten und angenehme Kühlung verbreitend, herabziehen. …Zwischen diesen, mitunter lebendigen Coulissen gleich, in die Mitte des Thales vorspringenden Bergen senken sich mehrere Nebenthäler, bald schluchtenartig, tief; schattig und feucht, bald muldenförmig mit lieblichen Wiesengründen nieder, aus welchen kleinere Bächlein den Quellenreichthum der Umgebung der Liesing zuführen.
Einen besonderen Reiz gewähren der Gegend die hier und da aus tiefem Waldesdunkel aufsteigenden grotesken Kalkfelsenformationen und die zahlreichen, frischen, blumenreichen Hochwiesen, welche sich, Inseln gleich, im Schoosse der Wälder als auch auf gelichteten Bergrücken ausbreiten. …
In der Tiefe unseres freundlichen Thales, zu beiden Ufern der Liesing und an beiden Seiten der guten Landstrasse, erstreckt sich in einer Ausdehnung von fast drei Viertelstunden die Ortschaft selbst, deren reinliche, zwischen Obstbäumen, Gärten und Wiesengründen gelegene Hauser sich nur an zwei Stellen zu dichteren Gruppen zusammendrängen. In der Mitte der Ortschaft und des Thales, an dessen breitestem Punkte … erhebt sich ... auf einem Felsen die hübsche, den Thalgrund nach oben und unten beherrschende katholische Pfarrkirche mit dem reizend gelegenen Pfarrhause.
Wer ist aber dieser junge Arzt und Gelehrte, der in den nun folgenden 50 Jahren Kaltenleutgeben ein Goldenes Zeitalter bescheren sollte? Wilhelm Winternitz stammt aus einer deutschböhmischen, jüdischen Familie, die in Josefstadt (heute bereits nach Prag eingemeindet) beheimatet ist, und kommt am 1. März 1834 zur Welt. Er besucht das Gymnasium in Königgrätz und studiert anschließend Medizin in Prag. 1857 wird er zum Doktor der Medizin und Chirurgie sowie zum Magister der Geburtshilfe promoviert. Seine ärztliche Laufbahn beginnt er in der Böhmischen Landesirrenanstalt im Prager Allgemeinen Krankenhaus. Nach drei Jahren tritt er als Corvettenarzt in den Dienst der kaiserlich-königlichen Kriegsmarine und begleitet in dieser Funktion 1859 Kaiserin Elisabeth nach Corfu.
Während seiner fünfjährigen Tätigkeit als Schiffsarzt hat er auch das Schlüsselerlebnis, das seine weitere ärztliche Laufbahn bestimmen sollte. Eines Tages tritt auf hoher See bei der Mannschaft urplötzlich und seuchenartig eine grippeähnliche, fieberhafte. Erkrankung auf. Da die mitgeführten Arzneimittel rasch verbraucht sind, steht für eine Heilbehandlung nur mehr Wasser zur Verfügung. Davon, dass ein gewisser Vinzenz Prießnitz im schlesischen Gräfenberg neuerdings mit der Anwendung von Kaltwasser Heilungserfolge erzielen soll, hat er schon gehört. Ohne irgendwelche Vorkenntnisse, aber auch ohne große Erwartungen geht Dr. Winternitz daran, die Kranken mit Wasser zu behandeln. Und siehe da, zu seiner eigenen großen Überraschung kann er bald eine umfassendere Besserung feststellen, als dies bei Verabreichung geeigneter Medikamente der Fall gewesen wäre. Von nun an greift er auch bei manchen anderen Erkrankungen auf Wasser zur Behandlung zurück und kann sich davon überzeugen, dass Wasseranwendung in verschiedenen Fällen von großem Nutzen sein kann.
Allerdings ist ihm auch klar, dass er im Finstern tastet, weil Anwendungsformen, Zeitdauer, Temperatur und vieles mehr einer sorgfältigen und umsichtigen Beobachtung bedürfen, um schrittweise gesicherte Erkenntnisse gewinnen zu können. Nach fünf Jahren als Schiffsarzt nimmt er seinen Abschied, begibt sich nach Gräfenberg und wird schwer enttäuscht. Nicht nur dass Dr. Winternitz hier eine Unzahl ungelöster Probleme vorfindet, muss er auch am eigenen Leib erfahren, dass manche Prozeduren, wenn sie etwa im Winter angewendet werden, nachhaltige Schädigungen bewirken können. Nach vier Monaten (1861/62) verlässt er völlig unbefriedigt Gräfenberg mit dem festen Vorsatz, seine weitere ärztliche Laufbahn der methodischen Wasseranwendung zu widmen und dafür ein streng wissenschaftliches Fundament zu erarbeiten. Die medizinische Fakultät der Wiener Universität gibt Dr. Winternitz dazu die Möglichkeit und bereits 1865 erlangt er hier die Lehrbefugnis rur diese neue therapeutische Richtung namens Hydrotherapie (Habilitationsschrift: ,,zur rationellen Begründung einiger hydrotherapeutischer Proceduren"). Noch im selben Jahr eröffnet er seine Praxis in Kaltenleutgeben.
Für diesen Zweck erwirbt der frischgebackene Dozent die ehemalige Badeanstalt des Adolf Weiß (Konskriptionsnummer 32). Dieser hat ja anfangs des 19. Jahrhunderts auf den Landhausgründen des Erbauers unserer Pfarrkirche Jakob Oeckhl - der sich bereits eine eigene Wasserleitung
mittels Holzröhren von der Kaltbrunnquelle her hat legen lassen - die erste Wasserkuranstalt Kaltenleutgebens errichtet. Wie eingangs bereits erwähnt, denkt Dr. Winternitz vorerst gar nicht an ein Unternehmen größeren Ausmaßes, denn das "alte Kurhaus", wie es später genannt wird, ist nur für die Aufnahme von maximal 18 Patienten konzipiert.
Abschließend soll noch einmal Dr. Winternitz selbst zu Wort kommen: Die Ortschaft zählt gegenwärtig (1869) in 135 Häusern 849 Einwohner ... Die Einwohner betreiben Wiesencultur und Milchwirtschaft oder beschäftigen sich in den Forsten und den großen Kalkgewerkschaften der Herren Georg Kraus (Stollwiese), Rudolf Siegl (Kaltbrunn) und Emanuel Tichy (Waldmühle), welche nach und nach das früher von Bauern betriebene Kleingewerbe der Kalkgewinnung und Erzeugung, aufgenommen haben. Uebrigens finden sich hier alle Gewerbe mehrfach vertreten.