Peter Nics
Kaltenleutgeben von damals bis heute
36. Folge
Von Ortsrichtern und Bürgermeistern
2. Teil
1886 wird der Gemeindearzt Dr. Moritz Reich (1886-1919) Bürgermeister. Er versieht dieses Amt bis 1919 über sechs Wahlperioden, also fast 34 Jahre lang, und wird jedes Mal einstimmig (wieder)gewählt. Dr. Reich, 1850 in Olmütz geboren, kommt 1874 als praktischer Arzt nach Kaltenleutgeben und wird bereits 1876 in den Gemeinderat geholt. Er ist unerhört beliebt, als Arzt genau so wie als Bürgermeister. Seine Einsatzbereitschaft kennt keine Grenzen. Mit seinem Fiaker macht er täglich zwei Mal die Runde durch Kaltenleutgeben und dann weiter über Sulz, Stangau und Wöglerin bis nach Breitenfurt. Wie die meisten seiner Patienten soll auch er nie auf Urlaub gewesen sein. Als Bürgermeister gelingt es ihm, 1897 ein ärarisches Postamt für den Kurort zu bekommen, also zu einer Zeit, in der auch in größeren Orten wie Liesing oder Mödling noch Postmeister amtieren. Er setzt sich für den Bau des Rathauses ein, das 1898 eingeweiht wird. 1900 erreicht er die Zuleitung von Leuchtgas für die öffentliche Beleuchtung (Straßenbeleuchtung) durch die Wienerberger Gasbeleuchtungsgesellschaft. Die Wasserkuranstalt Dr. Winternitz ist auf dem Höhepunkt ihres Bekanntheitsgrades angelangt, der Kurbetrieb läuft auf Hochtouren. Der Weltkrieg von 1914-18 macht jedoch alles zunichte.
1919 finden die ersten Wahlen nach dem allgemeinen gleichen Wahlrecht statt. Auf Grund des Wahlergebnisses stellt nun erstmals die sozialdemokratische Partei den Bürgermeister:Schuhmachermeister Johann Lacina (1919-1925). In seine Amtszeit fällt 1924 die Elektrifizierung des Ortes; den Strom liefert die Gemeinde Wien. Der Kurbetrieb ist praktisch am Ende.
Aus den Gemeinderatswahlen 1925, die ebenfalls die sozialdemokratische Partei gewinnt, geht Karl Janotta (1925-1928) als neuer Bürgermeister hervor. Allerdings wird der Gemeinderat 1928 wegen unlösbarer interner Probleme von der Landesregierung aufgelöst und Bürgermeister Janotta bis zur Gemeinderatswahl zum Gemeindeverwalter bestellt. Die Wahl findet einige Monate später statt und bringt der christlichsozialen Liste die Mandatsmehrheit.
Neuer Bürgermeister wird der Architekt und Landwirt Rudolf Weiss (1928-1938). Es sind immer noch wirtschaftlich schwierige Zeiten, die von Bürgermeister und Gemeinderat bewältigt werden müssen. Als Aufbauprogramm werden von Bürgermeister Weiss der Bau einer Ortswasserleitung, die Errichtung von Wohnungen und die Staubfreimachung der Hauptstraße angestrebt. Bereits 1929 kann die Staubfreimachung der Hauptstraße mit Hilfe der Bezirksstraßenverwaltung verwirklicht werden. Da die Gemeinde dem Verband der Triestingtal- und Südbahngemeinden beitritt, kann 1935/36 der Wasserleitungsbau durchgeführt werden. Der Ort, in dem es, durch Hausbrunnen bedingt, fallweise immer wieder zu Typhusfällen gekommen war, ist nun mit einwandfreiem Wasser versorgt und 44 Hydranten im Ortsgebiet können bei Bedarf der Brandbekämpfung dienen.
Die Volkszählung 1934 zeigt auf: In 323 Häusern gibt es 616 Haushalte mit 2019 Personen. 1004 Bewohner leben von der Arbeitslosenunterstützung oder sind befürsorgt. 405 Selbstständige haben mit ihren Familien im Ort ihre Existenz, 16 auswärts. 220 Arbeiter und Angestellte finden mit ihren Angehörigen im Ort ihren Unterhalt, 367 außerhalb. Auch der Kur- und Sommerfrischebetrieb beginnt sich langsam zu erholen. 1937 gibt es bereits wieder 82.000 Nächtigungen von 2.200 Personen, mehrheitlich aus Wien. Trotzdem schlittert die Kuranstalt, die zu einem Spekulationsobjekt wird, in den Bankrott und muss gegen Ende dieses Jahres den Konkurs anmelden.
Leider steht sich bereits seit Jahren die Bevölkerung Österreichs und auch Kaltenleutgebens, in zwei Lager gespalten, so gut wie unversöhnlich gegenüber. Die Annexion Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 beendet letztlich gewaltsam alle Querelen.
Nicht nur Österreich sondern auch Kaltenleutgeben verliert 1938 seine Selbstständigkeit. Die seit jeher eigenständige Gemeinde wird „Groß-Wien“ einverleibt und dem 25. Bezirk (Liesing) zugeteilt. Statt Gemeindekanzlei und Bürgermeister gibt es nur mehr eine Amtsstelle als Außenstelle des magistratischen Bezirkamtes Liesing, mit bis 1945 mehrfach wechselnden Leitern. Die Kuranstalt wird zu einer SA-Kaserne.
Am 7. April 1945 ist zwar für Kaltenleutgeben der Krieg zu Ende, nicht aber Angst, Hilflosigkeit und Not, denn vorübergehend löst nur ein Schreckensregiment das andere ab. Unter den zahlreichen Ziviltoten befindet sich auch der Ortspfarrer Johann Wolf.
Unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen wird ein "Freiheitskomitee" (zur Besorgung der allgemeinen Bedürfnisse) gegründet sowie ein "Sicherstellungsausschuss" (für öffentliches und privates Gut) ins Leben gerufen. Bald wird aber vom Bezirksvorsteher mit Genehmigung der russischen Kommandantur ein - allerdings vorerst nicht verfassungskonformer - kommunistischer Ortsvorsteher eingesetzt: Josef Chlada. Er übt diese Funktion bis zur Nationalratswahl Ende 1945 aus. Auf Grund des Wahlergebnisses - im Bezirk Liesing wird die SPÖ stimmenstärkste Partei - wird nun der Gastwirt Leopold Macher zum neuen Ortsvorsteher bestellt und behält diese Funktion bis 1954 bei.
1954 gibt die Sowjetunion endlich ihre Zustimmung zum Vollzug des so genannten „Randgemeindengesetzes“ (Trennung ehemals niederösterreichischen Gemeinden von Wien) und Kaltenleutgeben wird wieder selbstständige Gemeinde. „Ortsvorsteher“ Leopold Macher (1954-1957) wird vom nach den Mandatsverhältnissen der letzten Wahl ernannten Gemeinderat nun zum Bürgermeister gewählt. Nach der von der SPÖ gewonnenen Gemeinderatswahl 1955 wird er als Bürgermeister bestätigt.
Er muss – aber keineswegs kampflos! – 1955 wohl oder übel fast ein Drittel des Gemeindegebietes auf Grund einer Entscheidung der Niederösterreichischen Landesregierung (damaligen) Nachbargemeinden überlassen: Der Tirolerhof geht an Perchtoldsdorf, Wassergspreng an Weißenbach und die Gießhübler Heide an Gießhübl.
Im Oktober 1957 löst August Haunzwickl (1957-1973) Macher als Bürgermeister ab. 1958/59 findet die (erste) Erweiterung des Waldfriedhofes statt, die auch eine Urnenhalle mit einschließt. 1959 gelingt es der Gemeinde, den Conte de Villeneuve dazu zu bewegen, die von diesem 1938 erworbenen so genannten „Wirtschaftsgründe“ der ehemaligen Wasserheilanstalt (inklusive der Quellen) an sie zu verkaufen. Ein Kauf, dessen Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
1963 beginnt der Ausbau der Landesstraße, ein Kanal für die Regen- und geklärten Abwässer wird gelegt. Die Gemeinde finanziert der Feuerwehr einen neuen Tanklöschwagen. In den sechziger Jahren wird fleißig gebaut: die Gemeindewohnhäuser Promenadegasse 26a/Berggasse und Hauptstraße 115, mehrere Wohnhäuser in der Karlsgasse auf Gemeindegrund, die Eigentumshäuser der Siedlung Doktorberg. Die Perlmooser Zementfabrik errichtet einige Personalwohnhäuser. Die Einwohnerzahl steigt daher wieder und beträgt bei der Volkszählung 1971 bereits runde 2500. Die Gemeinde erwirbt auch die restlichen Grundstücke und Häuser der ehemaligen Wasserheilanstalt.
1973 tritt Haunzwickl als Bürgermeister zurück und August Wagner (1973-1996) wird einstimmig zum neuen Bürgermeister gewählt. Er nimmt mit 23 „Dienstjahren“ den zweiten Platz im Bürgermeisterranking ein. Bürgermeister Wagner gelingt es, den Aufteilungsbescheid betreffend die ungerechte Aufteilung der von der Perlmooser Zementfabrik abgelieferten Gewerbe- und Lohnsummensteuer zwischen Wien und Kaltenleutgeben erfolgreich zu beeinspruchen und eine Nachzahlung von neun Millionen Schilling zu erreichen. Der Kredit für den Kauf der Kurhausgründe kann vorzeitig getilgt werden.
1975 kommt es zu einer neuerlichen Erweiterung des Friedhofs; 1977 wird neben der Schule eine Turnhalle errichtet, 1979 entstehen der Kindergarten mit Raika, Mutterberatung, Bücherei und Personalwohnungen. In der zweiten Hälfte der Siebziger werden Rathaus, Schule und Professorenvilla renoviert, die Wohnhausanlage Hauptstraße 34 (ehemalige Bahnhofsanlage) inkl. Arztpraxis errichtet, 1980 der Bauhof in Betrieb genommen und 1988 die große Wohnhausanlage auf den ehemaligen Kurhausgründen sowie ein Seniorenwohnheim im Unterort fertig gestellt. Nach Ankauf der „Emmelgründe“ mit den noch vorhandenen Gebäuden wird 1988-90 das alte Hauptgebäude der ehemaligen Emmel-Wasserkuranstalt und späteren Pension einer Totalrenovierung unterzogen und mit (Start-)Wohnungen ausgestattet. Von 1988 -96 wird am Fäkal- und Abwasserkanal gebaut. 1989 bekommt Kaltenleutgeben auf Hauptstraße 64 eine Rettungsstelle des Roten Kreuzes und die Feuerwehr ein modernes Rüstfahrzeug. In der ersten Hälfte der Neunziger wird die Hauptstraße aus Sicherheitsgründen einer weiteren Umgestaltung unterzogen. Die Übergabe des Baurechts für Gemeindebaugründe an die „Wien Süd“ ermöglicht günstigen Wohnhausbau. Die Sportförderung der Gemeinde macht die Anlage eines Tennisplatzes (der Union), eine Asphaltbahn für die Eisschützen und die Herstellung einer Straße zum Fußballplatz möglich. Im Kulturbereich werden die Neujahrskonzerte und die Lichtbildervorträge eingeführt. Für Schrebergartenfreunde wird die Errichtung der Kleingartensiedlung „Am Brand“ ermöglicht. Die Volkszählung 1991 ergibt für Kaltenleutgeben eine Einwohnerzahl von 2699 Personen, die in 1123 Haushalten leben.
1982 ist ein ganz besonderes Jahr für Kaltenleutgeben, denn die Gemeinde wird auf Beschluss des Niederösterreichischen Landtages zur Marktgemeinde erhoben. Gleichzeitig werden ihr Wappen und Fahne verliehen.
1996 wird nach dem Amtsverzicht von Bürgermeister Wagner der langjährige Gemeindesekretär Herbert Hohlagschwandtner einstimmig zum Bürgermeister gewählt (1996-2006). Seine 30jährige Gemeindetätigkeit unter zwei Bürgermeistern prädestiniert ihn in außerordentlicher Weise für dieses Amt.
Im Sommer1996 werden der Volksschul-Zubau und 1998 die Wohnhausanlage in der Promenadegasse 41-45 (inkl. Arztpraxis) fertig gestellt. 1997 wird im Rahmen einer Veranstaltung mit der polnischen Botschaft am Adolfshof (Pfarrgasse 3) eine Gedenktafel für den polnischen Literaturnobelpreisträger Henrik Sienkiewicz, der immer wieder Kaltenleutgeben aufgesucht und meistens in diesem Haus logiert hat, enthüllt. 1998 wird die vorbildliche Kulturarbeit der Marktgemeinde mit einer Auszeichnung honoriert. 1999 kann sowohl im Kindergarten wie auch im Hort die Ferienbetreuung eingeführt und 2001 dann der neu erbaute Gemeindehort in Betrieb genommen werden. Die Volkszählung 2001 weist 904 Gebäude aus, in welchen 2996 hauptgemeldete Personen wohnen.
Das größte Vorhaben während Bürgermeister Hohlagschwandtners Amtszeit ist zweifellos die Errichtung eines Sicherheitszentrums. Nach einem vom Gemeinderat ausgeschriebenen Wettbewerb entscheidet sich eine Jury Anfang 2001 einstimmig für jenes Projekt, das verwirklicht und 2004 seiner Bestimmung übergeben wird. Mit diesem Vorhaben kann endlich der unzureichende und unzumutbare Zustand der bisherigen Feuerwehrunterbringung behoben und gleichzeitig für die Rettungsstelle des Roten Kreuzes Räumlichkeiten, die den heutigen Erfordernissen entsprechen, geschaffen werden.
Weitere Gemeindeaktivitäten und Förderung von Aktivitäten in Kürze: Renovierung des alten Teiles der Volksschule und Anpassung an heutige Erfordernisse, z.B. Ausstattung der Computerklasse mit neuen Computern; Förderung des Musik- und Turnunterrichtes, z.B. durch Bustransfer zum Sportzentrum Perchtoldsdorf; Ärzte-Wochentagsnachtdienst, „Essen auf Rädern“, Betreuung alter und kranker Mitbürger durch Hilfsorganisationen; Zeckenschutzimpfung für Kinder; Ausarbeitung eines Projektes betreffend die zukünftige Entwicklung des Ortskernes (mit entsprechenden Widmungen) gemeinsam mit der Bevölkerung (Standort Hort und Sicherheitszentrum, zusätzlicher Parkplatz); Gefahrenzonenplan, z.B. notwendige Wasserschutzbauten betreffend; Digitalisierung des amtlichen Raumordnungsprogrammes, des Flächenwidmungs- und des Bebauungsplanes; Ankauf des ehemaligen Tankstellen-Grundstückes für eventuelle (zukünftige) öffentlichen Verwendungszwecke; Verhinderung der Schließung des Postamtes.
Trotz dieser umfangreichen Aktivitäten ist es gelungen die Schuldenlast der Gemeinde bedeutend zu verringern und die Pro-Kopf-Verschuldung von 2.700 auf 1.650 Euro (gerundet) herabzusetzen – sie liegt damit unter dem Landesdurchschnitt.
Mit Jahresende 2006 übergibt Bürgermeister Hohlagschwandtner das Amt an seinen designierten Nachfolger Ing. Josef Graf, der vom Gemeinderat einstimmig zum neuen Ortschef gewählt wird.