Peter Nics
KALTENLEUTGEBEN VON DAMALS BIS HEUTE
48. Folge
Das Dorf Kaltenleutgeben im Jahre 1794
oder
Eine Spazierfahrt von Rodaun nach Kaltenleutgeben
In seinen „Wanderungen und Spazierfahrten in die Gegenden um Wien“ beschreibt Franz Anton de Paula Gaheis auch eine Spazierfahrt nach Kaltenleutgeben. Ich habe seinerzeit davon die ausführlichere, aber grundverschiedene Fassung von 1801 in der Festschrift der Marktgemeinde Kaltenleutgeben (1982) wiedergeben lassen.
Der gebürtige Kremser Gaheis warein bekannter Pädagoge und Wiener Lokalhistoriker mit einschlägigen Publikationen. So erschienen zwischen 1797 und 1808 seine oben zitierten „Wanderungen“ als Heftreihe in mehreren Auflagen, die letztlich sieben Bändchen umfasste und die Entdeckung der die Haupt- und Residenzstadt Wien umgebenden Landschaft einleitete. Wien bestand damals aus der von Basteien (heute in etwa die Ringstraße) umgebenen Inneren Stadt und den vom Linienwall (heute in etwa der Gürtel) umgebenen Vorstädten. Außerhalb des Linienwalls lagen die Vororte, die bereits Ziel dieser „Wanderungen“ waren. Bei dem hier wiedergegebenen Text handelt es sich um die Urfassung, die zugleich auch die kürzeste ist.
Dann fängt sich der Thalweg an, und geht in fast gerader Richtung durch dasselbe hin. Zu Anfang desselben sind die Berge zu beyden Seiten über die Massen kahl; je mehr man aber in das Thal hineindringt, desto mehr werden sie von Schritt zu Schritt bewachsener und blühender, bis sie sich endlich mit dichten Waldungen und an den Abhängen mit grünen Wiesen bedecken. Indeß würde die Fahrt durch dieses Thal doch einigermassen langweilig werden, wenn man nicht öfters Hüttchen und Häuser erblickte, die uns an den Aufenthalt unsers Gleichen erinnern. Der kleine klare Bach hat hier eine Mehlmühle, weiter oben eine Sägemühle, dann ein Wirthschaftsgebäude, und endlich einen Trupp Kalköfen mit den Wohnungen arbeitender Menschen bespült. Hier rieselt er am Fuße eines Waldes, da bewäßert er einen Wiesenfleck, dort dient er zur Leinwandbleiche, anderswo erquickt er ein Obst= oder Küchengärtchen.
Von da, wo man 6 oder 7 Kalköfen mit ihren Hütten erblickt, beträgt die Entfernung nach dem Ziele dieser Spazierfahrt etwa eine Viertelstunde. Wer sich das Vergnügen einer angenehmen Bewegung machen will, kann hier aus dem Wagen steigen, und jenseits des Baches auf den fetten, wohlriechenden, mit den schönsten Feldblumen durchwirkten Wiesen fortwandeln. Von hieraus wird ihm die Kirche, deren Lage überaus frappant ist, sehr überraschend aus dem dunkelgrünen Hintergrunde der Wälder entgegen lachen.
In diesem halbwilden Waldkessel liegt Kaltenleutgeben, der Sitz der sogenannten Kalkbauern. (Bey der Einfahrt in das Dorf werden 2 kr. [=Kreuzer, etwa 35 Cent] Mauthgeld bezahlt. Zu Atzgerstorf sind 4, und bey der Linie, wie bekannt, für 2 Pferde 6 kr. zu entrichten. Eben so viel überall auch bey der Zurückfahrt.) Ihre Sitten und Sprache unterscheiden sich von jenen der näher bey Wien lebenden Landsleute merklich; sie athmen noch viel Einfalt und Unverdorbenheit. Dennoch giebt es unter ihnen einige, welche der Verkehr nach Wien schon auch gebildeter und – listiger gemacht hat. Im Wirthshause, das dicht am Bache liegt, trifft man eine zwar ländliche, aber reine und geschwinde Bedienung und gesunde Kost an. Zuweilen wird in den obern Zimmern von herumziehenden Musikanten, und zugleich vor dem Hause unter einem grünen Dachwerke von Dorfbewohnern Musik gemacht, und bey Erstern nach städtischer, bey Letztern nach ländliche Art getanzt. Es ist wirklich ein eigenes Vergnügen, aus den Fenstern diese beyden Arten des Tanzes mit anzusehen, und zu bemerken, wie viel Natur und Frohsinn in den ungekünstelten Vergnügungen dieser Menschen angebracht ist, wonach der Städter umsonst ringet. – Kaum ist der nachmittägige Gottesdienst zu Ende und kaum tritt die erste Person aus der Kirche, so fangen die Musikanten, die mit der Genauigkeit eines Aviso-Posten darauf merken, aus vollem Halse mit kleinen Röhren zu pfeifen an. Diesem Signale der Fröhlichkeit läuft das junge Volk mit größter Begierde zu, und es hat noch kaum seinen Rosenkranz in die Tasche gesteckt, so wird schon zum Tanzen der Anfang gemacht.
Das Wirthshaus ist zwar etwas ärmlich, doch mit einem Stockwerke und 3 abgesonderten Zimmern versehen. Freylich wird sich wohl niemand um den Architecten der Stiege erkundigen, die in aller Rücksicht halsbrecherisch ist, indeß wird man dafür durch die angenehme Aussicht aus den obern Fenstern hinlänglich entschädigt. Der Wirth heißt Georg Bischinger und ist ein ehrlicher Rechenmeister; die Wirthinn ist ein Muster der Thätigkeit und dabey sehr wohlwollend und munter.
Die Kirche, welche einige hundert Schritte vom Dorfe entfernt und inwendig in gutem Stande ist, hat auch von aussen ein ganz niedliches Aussehen. Sie ist vor ungefähr 30 [wird in der nächsten Auflage richtiggestellt: beynahe 70] Jahren sammt dem Pfarrhause auf einer Erhöhung am Fuße eines Hügels an einer Felsenwand vom Grunde aus neu und mit gutem Geschmacke erbauet worden. Vorzüglich nimmt sie sich wegen ihrer einsamen, erhabenen Lage aus. Das Pfarrgebäude ist noch näher an dem grünbewachsenen Hügel und wird von der Kirche durch den Gottesacker getrennet. Man wird nicht leicht ein Gebäude finden, daß so zur Einsamkeit, und zum Nachdenken bequem ist, als dieses. Von den Fenstern aus ist die nächste Aussicht auf die sparsamen Gräber (Es war uns auffallend, bey einem verhältnißmäßig so bevölkerten Dorfe so wenige neue Gräber zu finden. Man versicherte uns, es stürben hier, außer den Kindern und Alten nur sehr wenige Leute, weil hier kein Weinbau ist, und sonach die Leute zu ihrem Glücke gezwungen werden, mit der Arbeitsamkeit Mäßigkeit zu verbinden.), und rückwärts schlängelt sich ein sanft erhabener Pfad durch die dunklen Gewölbe des Waldes. Der jetzige Pfarrer, R. Greupel [der Augustinereremit Pater Rudolf Greipel war von 1793 bis 1798Lokalkaplan], ein sehr gebildeter, humaner Mann, scheint auch von dieser Lage zu seinem und zum Vortheile seiner Gemeinde den weisesten Gebrauch zu machen.
Hinter der Kirche längs dem Thale finden sich die angenehmsten Spaziergänge an der Seite eines klaren, rieselnden Baches, den die naheliegende Waldung sanft beschattet. Ueberall trifft man einzelne Kalköfen an, und dem Wirthshause gegenüber ist eine ungeheure Kalkgrube, die schon seit einigen Menschenaltern Steine geliefert und noch für künftige Zeiten reichliche Vorräthe hat.
Wenn man einen der vielen Hügel besteiget, die das Dorf von allen Seiten umgeben, so kann man sich bey dem Anblicke der erhabenen Kirche, und der gegenüber befindlichen in gleicher Erhöhung ausgewühlten großen Kalkgrube, kaum erwähnen, an den großen, wahrhaft göttlichen Ausspruch zu denken: Bethe und – arbeite! Und um die ganze Glückseligkeitslehre des menschlichen Geschlechtes hier im Sinnbilde vorgestellt zu finden, so werfe man von dem Arbeits- und Gebethsplatze einen Blick auf das mitten dazwischen im Thale liegende Gasthaus, wo diese schlichte Menschengattung sich durch Tanz und Gesang mäßig vergnügt. Wer, dessen Geistesaugen nicht verdorben sind, findet in dieser Gruppe nicht mit leserlichen, goldenen Buchstaben geschrieben?
Willst du an Leib und Seele gesund seyn, und dich deines Daseyns lange erfreuen: so verbinde, wie dieses gute Völklein, Arbeit mit dem Andenken an Gott, und würze beydes mit mäßigem Genuße sinnlicher Vergnügen. Diese ziehen dich ins Thal der Menschenwürde, verweile darum nicht lange; jene erheben dich auf Höhen, wo der Mensch seiner Verklärung näher ist. –
Verzeihung, meine schönen Damen und Herren!, wegen diesem Ausflug in das Gebieth der Moral. Reißen Sie dieß beleidigende Blatt heraus und geben Sie es, kandirt, allen den zuckersüßen jungen Herrchen zu verschlucken, die diese Gegenden besuchen, nicht um sich von nützlichen Arbeiten zu erhohlen, sondern um die drückende Last der Stunden von sich zu wälzen, nicht um ihr Licht leuchten zu lassen auch unter den Kalkbauern, sondern um sich durch ihr Schwelgen oder ihren Unsinn lächerlich zu machen. Proficiat diesen! – Ihnen aber, die Sie aus edlern Ansichten Spazierfahrten unternehmen, wünschen wir bey ihrem Aufenthalte in Kaltenleutgeben schönes Wetter, einen von Sorgen befreyten, heitern, der hiesigen Gegend empfänglichen Geist und so viel Vergnügen, als edle Gemüther ohnehin überall finden und zu finden verdienen.
PS 1
Ergänzend zur letzten Folge über das Jahr 1938 möchte ich, um allfällige Missverständnisse zu vermeiden, darauf hinweisen, dass die beiden abgebildeten Gebäude (Bäckerei und Wirtshaus) längst in fremde Hände übergegangen sind und die heutigen Besitzer in keinem wie immer gearteten Verhältnis zu den damaligen Eigentümern stehen.
PS 2
Mir wurden vor kurzem Kopien von großartigen Fotos der alten Schießstätte in der Karlsgasse übermittelt, aber leider anonym. Ich möchte mich dafür herzlich bedanken und es wäre mir ein Bedürfnis, den löblichen Spender kennen zu lernen.